Autoren träumen davon, dem Planeten einen Bestseller zu schenken. Sie träumen vergeblich. Die Halbwertszeit ist auch bei Topsellern ernüchternd kurz. Und die Chance, dass die Hauptfigur einer Geschichte nach ihrer Veröffentlichung 2000 Jahre lang die Menschheit umkrempelt, ist überschaubar. Vor allem, wenn man auch noch am Zielpublikum vorbei schreibt. Kein ehrgeiziger Autor legt einem wütenden Volk unter Fremdherrschaft die Geschichte eines Vagabunden ans Herz, der sich zum Messias proklamiert, dann aber in alle verfügbaren Fettnäpfe steigt und sich von den Besatzern hinrichten lässt.
Ein paar hundert Schreiber haben es dennoch gemacht: Die Jesus-Autoren speisen ihre Niederschriften aus tausend Erzählströmen, entsprungen aus hundert Quellen – inspiriert von einer Figur, die soviel Eindruck gemacht hat wie alle Charaktere von William Shakespeare zusammen.
Einer bockt
Laut den Erzählströmen ist Jesus der älteste Sohn eines Nazarener Bauhandwerkers. Einer, der in die Fusstapfen seines Vaters treten, für seine Eltern sorgen und Nachkommen zeugen müsste. Aber das tut er nicht. Er verlässt Beruf, Heimat und Sippe und stiftet weitere Männer dazu an, darunter Verheiratete. Wer sich ihm anschliesse, erklärt er, müsse alles andere zurückstellen; auch Vater und Mutter, Frau und Kinder. Mit den family values hat er es nicht.
Als Begleiter sucht er sich kantige Köpfe aus. Sie bilden das ideale Ensemble für eine Komödie, mit einem Totalschaden als Finale. Mal handeln sie feige und mal mutig, mal überlegt und mal hitzköpfig, mal treu und mal verlogen. Wortführer Petrus liefert Episoden von so grotesker Peinlichkeit, dass man bei der Lektüre das Seufzen der Autoren zu hören glaubt. Gleichwohl schreiben sie sie auf.
Auch Jesus ist schwer zu fassen. Er ist sanftmütig und ausfallend, anziehend und abstossend, Sympathieträger und Hassfigur. Eine Geschichte mit einem solchen Protagonisten ist zum Scheitern verurteilt. Auf etwas aber ist Verlass, und dies bei sämtlichen Jesus-Autoren, egal wie persönlich gefärbt ihre Niederschrift ist: Der Protagonist ist bockig. Er ignoriert die Erwartungen. Alle. Konsequent.
Einer provoziert
Begleitet von seiner Entourage vagabundiert der Prediger und Heiler durch die Gegend und übt Verzicht; Verzicht auf den Schweiss seines Angesichts. Er lässt sich einladen. Dabei ist ihm keine Gesellschaft schlecht genug, um sich in ihr wohl zu fühlen – korrupte Beamte, promiskuitive Damen, Mitglieder der Sekte der Samariter, gottlose Heiden, Offiziere der Besatzungsmacht, Widerstandskämpfer.
Der Lebenswandel des Wanderpredigers ist ein Affront gegenüber allen reinen Mitbürgern, die ihr täglich Brot auf redliche Weise verdienen, die Teilzeit arbeiten, fairtrade einkaufen, ihre langen Haare zum «man bun» knoten und bei Frauen ausschliesslich auf die inneren Werte achten.
Das erste Wunder eines Heilers, so will es das Lehrbuch für Autoren, muss programmatisch sein für sein Wirken: Soll er als Augenöffner inszeniert werden, dann heilt er Blinde. Aber die Erzählströme halten sich nicht ans Lehrbuch. Als erstes verwandelt der Nazarener Wasser in Spitzenwein. Für eine offenbar schon recht heitere Hochzeitsgesellschaft. Das Wasser lässt er zuvor recht frivol in Töpfe füllen, die für rituelle Reinigungen bestimmt sind.
Einer inspiriert
Der Outlaw zeigt kaum Respekt vor Traditionen und Gesetzen. Er lässt seine Jünger am Sabbat Ähren ausreissen. Er heilt Leute, auch am Sabbat, immer wieder, provokativ. Die Pharisäer als jüdische Moralwächter zücken ihre Lieblingswaffe, die Theologie, und feuern Salven von Versen auf den freisinnigen Rebellen ab. Gelegentlich geht er auf ihre Paragrafenhubereien ein, bis sie an ihrer eigenen Überheblichkeit auflaufen. Meistens aber lässt er sie abperlen und erzählt stattdessen einfach Geschichten.
Es sind liebliche, brachiale, symbolhafte Geschichten aus dem Alltag – so eingängig, dass manche Jesus-Autoren beim Niederschreiben wohl ihre helle Freude haben. Diese «Gleichnisse» funktionieren nach den Prinzipien des modernen Storytellings. Manchmal gibt Jesus Deutungshilfen mit, manchmal lässt er auch einfach wirken, was er den Leuten in den Kopf gesetzt hat.
Einer verwirrt
Dem unterdrückten Volk der Juden passt der Unruhestifter wunderbar ins Jobprofil ihres Messias. Sie mögen es, wie er sich auf die Seite der Verurteilten und Verlierer schlägt. Wie er den Reichen das Teilen predigt. Wie er den Pharisäern die Leviten liest, wie er ausflippt und sie beschimpft. Die Leute raunen, er sei ein Gottessohn.
Jesus dementiert es nicht, im Gegenteil, er vergibt den Leuten im Namen Gottes ihre Sünden. Die Sittenwächter sind empört. Sie haben die Absolution verkauft und er verschenkt sie. Ihnen kommt nicht nur ihr Pfand abhanden, das schlechte Gewissen der Leute, sondern gleich die ganze Währung, die Moral. So war das nicht abgemacht mit den Propheten aus dem Talmud. Der Erlöser muss die römischen Besatzer angreifen und nicht die jüdischen Autoritäten. Für sie ist klar: Dieser Wanderprediger ist nicht der Messias.
Einer berserkert
Auch das Volk wird zunehmend ratlos. Statt zum Schwert greift der Retter, völlig meschugge, zur Demut. Robin Hood bockt. Liebt eure Nächsten, vergebt euren Feinden, haltet die andere Backe auch noch hin. Und bezahlt Steuern. Selbst den Besatzern.
Der Tribun kümmert sich nicht um Applaus. Auch nicht um jenen seiner Freunde. Er verweigert der erwachenden Volksbewegung das nötige Momentum. Einen Triumphzug in die Heilige Stadt absolviert er. Aber weinend und auf einem Esel. In der heiligen Stadt angekommen sucht er die Auseinandersetzung, spricht Tacheles, schimpft und berserkert – aber wieder nicht beim römischen Statthalter, sondern im jüdischen Tempel. Er schreckt auch nicht vor Sachbeschädigung zurück und wirft die Tische der Händler um, denen nun die Opfertiere um die Ohren fliegen. Seine Nächstenliebe hat Aussetzer.
Einer sprengt alles
Gemäss Lehrbuch wäre es längst Zeit für Eskalation, Schlacht und Sieg. Stattdessen berichten die Erzählströme von einem designierten Messias, der in die Knie geht und Andern die Füsse wäscht. Anschliessend lässt er sich von seinen Jüngern verraten, verleugnen und ausliefern, von den jüdischen Autoritäten falsch anklagen, von den römischen Autoritäten foltern und hinrichten. Nach drei Jahren voller Wundertaten hängt der Hoffnungsträger am Kreuz und blickt weinend auf ein Volk hinab, das er zutiefst enttäuscht hat, ein Finale zum Vergessen. Eine Geschichte zum Vergessen. Die Autoren schreiben die Geschichte nur nieder wegen des Epiloges, den die Erzählströme ihnen zutragen: Der wilde Nazarener ist konsequent und hält sich auch nach seiner Hinrichtung nicht an die Erwartungen. Er kehrt zurück von den Toten.
Das kann man glauben. Muss man aber nicht. Die Erzählströme kümmert es nicht. Sie halten an, seit 2000 Jahren. Ihre Niederschriften sind Topseller seit es Topseller gibt, und wie die Jesus-Autoren das hingekriegt haben, hätte wohl selbst Shakespeare gerne gewusst.
Noch bemerkenswerter ist, dass der soziale Sprengstoff dieser vier Evangelien bis heute weltweit Detonationen verursacht. Ausbrüche von gewöhnlichem Hass und ungewöhnlicher Liebe. Unabhängig von seiner Historizität krempelt der erfolgreichste Verlierer der Geschichte seit 2000 Jahren die Menschheit um. Tot ist anders. Wie allerdings dieser Sozialrebell auf den Gemälden zu seinem Kamillenteeblick kam, das ist eine andere Geschichte.