Jetzt geht das grosse Feiern los. Im Dezember reiht sich ein Fest ans nächste: Firmenfest, Adventsfeier, Chlaushöck, Weihnachten, Familienfest, Neujahr. Diese Zunahme der Festivitäten ist für einige Menschen schon fast zu viel. Es wäre ja auch viel praktischer, wenn sich das Ganze etwas übers Jahr verteilen würde. Denn kaum ist der Dezember vorüber, wird für den Rest des Jahres kaum noch gefeiert. Nur noch Traditionelles und Regelmässiges – Geburtstage, Ostern, 1. August, vielleicht noch die eine oder andere Hochzeit oder ein Jubiläum.
Diese ungleiche Verteilung muss nicht sein. Es gibt viele gute Gründe, mehr zu feiern, trotzdem zu feiern, einfach zu feiern. Im Dezember – aber auch im Januar, Februar, März, … Spontan, regelmässig, im kleinen oder grossen Rahmen.
Feiern macht fröhlich
Ich sitze in der Kirche und der Worshipteil beginnt. Aber so richtig in Stimmung für die fröhlichen Lieder, welche die Band spielt, bin ich nicht. Zu sehr beschäftige ich mich noch mit irgendwelchen Gedanken, die meine Stimmung drücken: Geduldiger mit meinen Kindern möchte ich sein. Weniger egoistisch denken und handeln. Die vielen Projekte im Job lassen mich auch nicht los. Und jetzt fröhliche Lieder singen? Ich ringe mich durch und beginne zögerlich mitzusingen. Ich fange an, mit den Liedern und Worten Gott zu danken, ihn zu feiern – und werde dabei nach und nach fröhlicher. «Freut euch allezeit», schreibt Paulus in einem seiner Briefe (1.Thessalonicher 5,16). Wenn wir feiern, gelingt uns das ganz gut. Freude so auszudrücken ist schön und macht sie sichtbar. Selbst wenn das «Sich- Freuen» gar nicht immer so einfach ist.
Feiern macht dankbar
Nach einigen herbstlichen, schon etwas kühleren Tagen, ist es noch einmal unerwartet mild. Als ich von der Arbeit heimkomme, ist die ganze Familie auf der Terrasse, barfuss und in kurzen Hosen. Alle geniessen die Sonne. Ich ziehe ebenfalls Shorts und Flip-Flops an und wir entscheiden uns spontan, den Grill anzuwerfen und draussen zu essen. Nach dem gesungenen Tischgebet sagt der ältere Sohn: «Ich glaube, wir feiern heute das Ende des Sommers, oder?» Recht hat er – wir feiern!
Etwas, das wir feiern, ist alleine durch dieses Zelebrieren nicht mehr einfach selbstverständlich. Das gilt gleichermassen für grosse und kleine Dinge, für Selbstverständliches wie auch für Aussergewöhnliches. Indem wir etwas feiern, geben wir dieser Sache damit einen Wert. Das macht mich immer wieder auch dankbar und zeigt mir meine Abhängigkeit von Gott.
Feiern verbindet Menschen
Eine Szene auf dem Kreuzfahrtschiff: Die Frau nippt an ihrem Champagnerglas und strahlt ihr Gegenüber über den Glasrand an. Er prostet ihr zu, nimmt einen Schluck, die beiden küssen sich. Den Ringen an ihren Fingern nach sind sie verheiratet. Beide gehen auf die Sechzig zu. Vielleicht feiern sie ein rundes Jubiläum? «Darf man gratulieren, feiert ihr einen Hochzeitstag auf dem Schiff?» – «Nein, wir haben uns gestritten. Das ist jetzt die Versöhnung», sagt sie und beide schmunzeln.
Menschen, die auf diese Art zusammen Gemeinschaft pflegen wie dieses Ehepaar, wachsen zusammen. Doch zusammen feiern bringt nicht nur Paare näher zueinander, sondern ganz allgemein Menschen. Denn feiern kann man (fast) nur in Gemeinschaft. Und damit teilt man automatisch Zeit und Gefühle miteinander.
Wie mein Cousin und ich: Er ist ein Jahr älter als ich und hätte ein guter Spielkamerad von mir sein können. Aber irgendwie ist es so gekommen, dass wir uns als Kinder nur ein oder zweimal gesehen haben. Seit wir ungefähr zehn Jahre alt waren, haben wir uns nicht mehr gesehen. Einzig über meine Grosseltern habe ich ab und zu etwas von ihm erfahren, beispielsweise dass er geheiratet hat oder dass er Vater geworden ist. Vor einigen Monaten habe ich ihn dann wieder getroffen – an der Beerdigung unseres Grossvaters. Nach der Trauerfeier sind wir noch zusammen essen gegangen. Ich habe seine Frau und seinen Sohn kennengelernt. Er hat meine Familie erlebt. Wir haben Erinnerungen an unsere Grosseltern ausgetauscht und einander einen kleinen Einblick in unsere Leben gegeben. Der eigentlich traurige Anlass hat uns ein kleines Stück näher zusammengebracht.
Feiern macht Gottes Liebe erlebbar
Ich weiss es schon im Voraus: das wird ein Fest! Zusammen mit meinem Sohn will ich heute zum ersten Mal Tortellini selber machen, von A bis Z. Wir haben uns gut vorbereitet: Pastamaschine vom Arbeitskollegen ausgeliehen, Fleischwolf aus dem Keller geholt, Küche vorbereitet. Dann geht es los, über drei Stunden lang stehen wir in der Küche. Wir messen Mehl ab, wir kneten Pastateig, wir schneiden Lammhack, wir würzen die Füllung und wir formen die Teigtaschen. Am Schluss dann die Belohnung: ein superfeines Essen, der pure Genuss.
Wir Menschen feiern, es ist irgendwie in uns drin. Schon immer haben wir dafür Gründe gehabt oder Gründe gesucht. In der Bibel findet sich meiner Meinung nach dafür eine Erklärung: Nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, ruhte er – und feierte! Und dasselbe – Ruhen und Feiern – gilt auch für uns: «Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber des siebenten Tages sollst du feiern, auf dass dein Ochs und Esel ruhen und deiner Magd Sohn und der Fremdling sich erquicken.» (2. Mose 23,12, Luther Bibel)
Wir sollen also feiern, weil es uns guttut. Weil wir dabei Gottes Geschenke an uns wahrnehmen können. Weil es sinnlich ist und wir es mit allen Sinnen erleben können: mit Musik, mit Essen und Trinken, mit Gemeinschaft, mit Düften.
Und wenn es nichts zu feiern gibt …
Im Jahr 2010 hat im Internet und in den Medien ein Video1 die Runde gemacht: Fünf Menschen stehen in einer Reihe. Musik beginnt zu spielen. Vor immer wieder anderen Kulissen sieht man sie fast bewegungslos stehen. Erst beim Refrain kommt plötzlich Bewegung in die Gruppe: Ein alter Mann und vier jüngere Begleiter beginnen eine einfache Choreographie zu tanzen, erst zögerlich, dann immer gelöster. «I will survive», auf Deutsch «Ich werde überleben», heisst das Lied. Dieses Video ist hunderttausendfach angeschaut und sehr kontrovers diskutiert worden. Denn der alte Mann ist ein KZ-Überlebender, die jüngeren Menschen sind seine Tochter und seine Enkel. Die wechselnde Kulisse zeigt verschiedene Orte in Auschwitz: das eiserne Eingangstor, das Krematorium, die Baracken. Darf man das? Adam «Adolek» Kohn, der Auschwitz überlebt hat, und seine Tochter Jane Korman finden: JA! Darum haben sie das Video gemacht. Weil sie trotz des unaussprechlichen Leids, das an diesem Ort passiert ist, das Leben, das Überleben feiern wollen.
Ich kenne den Moment, in dem es einfach nichts, gar nichts zu feiern gibt. Wie an diesem kühlen Herbstabend vor einigen Jahren am Fluss: Das kleine Schiffchen schaukelt auf den Wellen. Die Flamme der Kerze darauf erlischt beinahe. Meine Frau, unser damals zweieinhalbjähriger Sohn und ich schauen dem Bötchen auf dem Fluss nach. Für uns ein intensiver, trauriger Moment, denn wir verabschieden uns symbolisch von einem Familienmitglied. Wenige Tage zuvor hatte meine Frau eine Fehlgeburt. Nach kurzer Schwangerschaft starb das ungeborene Kind. So gerne hätten wir diesen Menschen kennengelernt, ihn in den Armen gehalten …
Trotz aller Trauer ist diese kleine Zeremonie aber auch irgendwie wohltuend, feierlich. Rückblickend liess dieser bewusste Abschied in uns sogar neue Hoffnung wachsen, selbst wenn es seine Zeit dauerte.
Auch wenn es beim Tod von Angehörigen oder im Angesicht von Ereignissen – wie die von Auschwitz – nichts zu feiern gibt: Feiern – und das nicht unbedingt im Sinne von Lachen und Festen – ist in einer solchen Situation eine Trotzreaktion, eine subversive Handlung. In dieser Situation trotzdem zu tanzen oder trotzdem eine feierliche Zeremonie abzuhalten, nimmt dem Sterben die Macht, dem «Tod den Stachel». Denn als Christ glaube ich, dass der Tod nicht das Ende ist und nicht das letzte Wort hat, weil Jesus nicht im Grab geblieben ist. Er hat gegen den Tod, gegen das Böse gewonnen, er lebt. In diesem Wissen trotzdem das Leben zu feiern ist, wie wenn wir damit dem Tod, dem Verderber aller Fröhlichkeit und Dankbarkeit, den Mittelfinger zeigen würden.