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Boot an einem Steg aus der Vogelperspektive
Geankert: Boot an einem Steg | (c) Tamara Garcevic/Unsplash

Rituale – Ankerplätze für die Seele

Kurze Momente, die das Leben reicher machen.
Publiziert: 16.03.2020

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Von Verena Birchler

Da war dieser eine Moment. Hoch oben im Toggenburg mit grandioser Aussicht auf den Zürichsee. Ich machte ein kleines Feuer und verbrannte viele Briefe und Fotos aus einer Zeit, die ich für mich bewusst abschliessen und hinter mir lassen wollte. Schmerzhafte Erfahrungen, die ich nicht weiter durchs Leben tragen wollte.

Die blauen Flecken auf meiner Seele waren verheilt, und mit diesem Ritual wollte ich meinem Leben eine neue Chance geben. Was war, ist vergangen. Mit Zuversicht wollte ich in die Zukunft gehen. Ganz wie Paulus es meinte, als er an die Philipper den Satz schrieb: «Was hinter mir ist, vergesse ich, nach dem aber, was vor mir ist, strecke ich mich aus.» (Phil. 3,13) Um diese Zeit in meinem Leben abzuschliessen, habe ich bewusst die Form eines Rituals gewählt. Während ich Schritt für Schritt auf den Tanzboden wanderte, kreisten meine Gedanken nochmals zurück zu diesen Erlebnissen, die negative Spuren in meinem Leben und meinem Denken hinterlassen hatten. Das Feuer war für mich ein Symbol, dass nichts – aber auch wirklich nichts aus jener Zeit mehr Einfluss auf meine Zukunft haben soll. Als ich mit Blick auf den Zürichsee zurückwanderte, war ich befreit und bereit für mein weiteres Leben. Dankbar, erwartungsvoll, voll mit neuer Hoffnung und Kraft.

Das Fastenritual ist zum Modetrend verkommen
Wir leben in einer Zeit, in der Rituale kaum mehr gepflegt werden. Gut, wir haben die Jahresrituale wie Ostern, Pfingsten, Weihnachten und die alkoholgeschwängerte Neujahrsnacht. Die kirchlichen Rituale sind längst kein allgemeines Kulturgut mehr. Also ritualisieren wir uns ab und zu durch Taufen, Geburtstage, Hochzeiten und Beerdigungen. Diese Ereignisse finden immer häufiger nicht mehr in Kirchen, sondern im privaten Umfeld statt. Nicht selten mit Hilfe von Ritualbegleitern, die Menschen mit viel Empathie durch Meilensteine ihres Lebens steuern. Diese Momente sind Restbestände aus einer Zeit, in der vielleicht zu viele Rituale unser Leben bestimmten. Der moderne Mensch hat sich davon weitgehend verabschiedet. Auch die österliche Fastenzeit hat schon längst ihren echten Sinn an die egozentrierten Optimierungsaktionen verloren. Während der Osterzeit gibt es das reinste Wettfasten, an dem sich Christen ebenso wie spirituell Distanzierte gleichermassen beteiligen. Da ist Christus an Ostern für die Menschheit ans Kreuz gegangen, um uns frei zu machen für eine Beziehung mit Gott. Und was sind unsere Rituale zu dieser unvergleichlichen Tat? Wir verzichten während 40 Tagen auf Zucker, Kaffee, Schokolade, Cola, Alkohol, soziale Medien und andere Dinge. Dabei drehen wir uns nur um uns selbst und lassen Jesus und das Kreuz aussen vor.

Wann blieb eigentlich der wahre Sinn des Fastens auf der Strecke? Fasten, um Gott näher zu kommen, statt die Blut- und Zuckerwerte ins Lot zu bringen? Diese Werte zu optimieren ist ehrenwert. Doch könnte man dies nicht auch im Sommer oder im Herbst machen? Muss man dafür die Passionszeit missbrauchen? Aber wer will schon während der Glace- und Grillsaison auf Leckereien und grillierte St. Galler OLMA-Bratwürste verzichten.

Vielleicht bin ich jetzt etwas pessimistisch. Immerhin sind irgendwo noch Restsubstanzen von Besinnung in unseren spirituellen Genen vorhanden. Also machen wir uns auf Spurensuche und geben den Ritualen eine neue Chance.

Rituale sind vielseitig und individuell
Rituale sind meistens mit Werten verbunden. Werte, die gepflegt werden. Ein Arbeitskollege erzählte mir, wie sie als Familie ein bestimmtes Ritual der Dankbarkeit pflegen. Immer wenn der Lohn auf das Konto überwiesen wird, machen sie gemeinsam ein kleines Fest. Sie kochen miteinander. Alle helfen mit. Nichts Grossartiges. Meistens eine Pizza. Dieser Abend, dieser Moment hilft, dankbar zu bleiben. Nicht alles als selbstverständlich zu erachten. Gott zu danken. Ich glaube, dass Gott sich da gerne dazusetzt.

Rituale ins Leben einzubauen macht uns zu aufmerksameren Menschen. Wir denken tiefer über unsere Jahre nach und lassen uns nicht einfach durchs Leben treiben. Die Osterzeit eignet sich wie keine andere, über Gottes Tun nachzudenken. Damals wie heute.

Da war Jesus. Dieses letzte Mahl. Der Verrat. Die Verurteilung. Die Kreuzigung. Die Auferstehung! Das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte zusammengefasst in wenigen Worten. In katholischen Regionen wird dieses Geschenk Gottes an uns Menschen noch ausführlich gefeiert. In Prozessionen, in speziellen Gottesdiensten, mit Liturgien und Konzerten. Aber in vielen Gegenden ist der Glaube sehr sachlich geworden. Gerade die Evangelischen halten es gerne mit Luther, der zum Fasten meinte: «Kein Christ ist zu den Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet.» Dem möchte man entgegenhalten: Lieber Martin, das hast du dir aber einfach gemacht, du alter Geniesser.

Wir können die Passionszeit und die kirchlichen Aktivitäten mit eigenen, ganz persönlichen Ritualen ergänzen. Ich mache dies immer so, dass ich mich bewusst auf einen Kreuzweg begebe. Seit vielen Jahren. Denn nichts berührt mich emotional so sehr, wie dieser Weg, den Jesus ans Kreuz führte. Besonders freut mich, dass ich in den letzten Jahren immer mehr von Ostermärschen höre, organisiert durch Kirchen unterschiedlichster Prägung. Da treffen sich am Ostersonntag Menschen in aller Frühe, mit unterschiedlichem spirituellem Hintergrund, um auf einem gemeinsamen Marsch die Nähe Gottes zu erleben. Ein wunderbares Ritual.

Im Sport finden wir richtige Ritualprofis
Rituale halten die Gesellschaft und Beziehungen zusammen und geben letztlich mir selbst Halt. Denken wir nur an Sportveranstaltungen. Kaum woanders sind Rituale so verbreitet wie im Leistungssport. Rafael Nadals Rituale bei Turnieren sind für ihn unverzichtbar. «Es ist mein Weg, um mich in meinem Spiel zu positionieren, die Dinge um mich herum so zu ordnen, wie ich meinen Kopf gern sortiert hätte.» Ich finde diese Aussage bemerkenswert. Rituale helfen uns beim Sortieren unseres Lebens. Treffender kann man es fast nicht sagen.

Rituale können im Sport auch Mut machen, motivieren. Sicher erinnern sich die meisten Fussballbegeisterten von uns an die EM 2016, als die Isländer mit ihrem «Klatsch-Hu-Jubel» die Massen begeisterten. Wir wollten doch alle, dass die Isländer gewinnen, nur um ihnen beim Jubeln zuzusehen. Später brachten die Neuseeländer Rugby-Spieler ihren Haka-Tanz in die Sportszene, von dem ich bis heute noch nicht weiss, ob er mir gefällt oder doch eher Angst macht. Rituale im Sport haben eine jahrzehntelange Tradition. Wir Menschen brauchen Rituale.

Rituale sind Ankerplätze für die Seele
Ich liebe es, Klöster und Kathedralen zu besuchen. An ihnen vorbeizufahren schaffe ich nicht. Für mich sind diese Stopps in diesen Gebäuden zu einem wertvollen Ritual geworden. Zuerst drehe ich eine Runde und schaue sie mir an. Mich faszinieren Baustil und Kunstwerke genauso, wie die Geschichten hinter diesen Bauwerken. Aber dann setze ich mich hin und geniesse diese Momente der Ruhe. Manchmal beobachte ich Menschen, die ebenfalls in diese Gemäuer kommen. Manche flitzen durch, als seien sie auf einer «Tour de Church». Andere nehmen sich Zeit. Zünden eine Kerze an, setzen sich, und man spürt förmlich, wie sie diesen Ankerplatz für die Seele bewusst wahrnehmen. Vielleicht war der Sturm in ihrem Leben gerade besonders heftig und es trieb sie in die Kirche. Vielleicht ist es aber auch einfach ein liebgewordenes Ritual, ein Boxenstopp in der Hektik des Alltags.

Diese Rituale unterbrechen nicht nur unseren Alltag. Sie führen uns durch das Jahr, die Monate, die Wochen und die Tage. Bewusst gewählte Rituale – ja, es gibt auch unbewusste wie Zähneputzen und den Morgenkaffee – haben klare Strukturen. Wir geben ihnen immer die gleichen Zeitabläufe, wir füllen sie mit bestimmten Handlungen und Gewohnheiten. So wie Schiffe regelmässig zurück in den Hafen geführt werden, tut es gut, unserer Seele hie und da einen Ankerplatz zu schenken.

Früher hatten wir viel mehr Strukturen in unserer Gesellschaft. Diese sind fast gänzlich verloren gegangen. Noch vor zwanzig Jahren sass der grösste Teil der Bevölkerung gesellschaftlich ritualisiert abends um 19.30 Uhr vor dem TV-Gerät und schaute die Tagesschau. Oder samstagabends gab es noch die grossen Unterhaltungskisten. Wenn Kurt und Paola Felix bei «Verstehen Sie Spass?» Menschen in unmögliche Situationen brachten, konnten am Montag alle mitreden. Das waren Rituale, die gesellschaftlich verankert waren. Unsere Gesellschaft kennt keine Rhythmen mehr. Das bedeutet, dass unser Kopf und unsere Seele umherirrt und Ordnung sucht. Rituale täten uns gut. Denn die verschiedenen Phasen eines Rituals bringen uns nicht nur uns selbst näher. Sie bringen uns auch näher zu Gott. Rituale durchbrechen nicht nur unser Lebenstempo. Sie lassen uns bewusster leben. Kürzlich habe ich bei mir eine interessante Reaktion auf eine liebgewordene Gewohnheit beobachtet. Ich liebe es, Kerzen anzuzünden. Vor allem in der Winterzeit. Also habe ich jeden Abend vier mittelgrosse, zwei kleine und eine grosse Kerze brennen lassen. Irgendwann realisierte ich, dass ich diese Gewohnheit gar nicht mehr so bedeutend fand wie zu Beginn des Winters. Ich überdachte dieses Tun und fand, dass ich diesem mehr Wert und Inhalt geben wollte. Und jetzt lachen Sie mich bitte nicht aus, aber ich habe mich entschieden, dass diese Kerzen bei mir nur noch am Wochenende brennen sollen. Ich möchte dieser Gewohnheit wieder mehr Wert geben und habe daraus nun ein Ritual gemacht. Mit dem Anzünden der Kerzen läute ich das Wochenende ein, lese bewusst biblische Texte und danke Gott für all das Gute, das ich in den vergangenen Tagen erlebt habe. Keine Ahnung, wie lange ich dieses Ritual am Leben erhalten werde. Aber es sind diese kleinen Rituale, die ich bedeutend finde.

Wenn wir also jetzt in die Passionszeit kommen, wäre es eine gute Zeit, eigene Rituale zu überdenken. Oder neu zu entdecken. Vielleicht möchten Sie in diesem Jahr fröhlich weiter Kaffee trinken, Zucker geniessen und in den sozialen Medien aktiv sein. Vielleicht verschieben Sie dieses jährliche Ritual und ersetzen es während der Passionszeit mit neuen Inhalten. Inhalte, bei denen Sie 40 Tage lang ausprobieren, wie sich das anfühlt, morgens und abends mit Gott zu reden. Oder 40 Tage lang jeden Tag über den Kreuzweg nachzudenken. 40 Tage lang einen Gebetsspaziergang zu machen. Egal was, Sie haben genug Fantasie. Nutzen Sie die Chance, 40 Tage in Ihr geistliches Leben zu investieren und optimieren Sie Ihre Blut- und Zuckerwerte im Sommer.

 

Ein Ritual gestaltet sich in folgenden Phasen

1. Phase «Wir entscheiden uns zu einem Boxenstopp»

Wir fahren raus aus dem Alltagstempo und drücken die Bremse. Das bedeutet, ichlasse für einen Moment alles hinter mir. Ich verlasse das Gewohnte und betreteeinen Raum des Besonderen. Dabei schaffe ich einen Rahmen, der mir hilft, zurRuhe zu kommen. Für die einen ist dies räumlich, andere zieht es vielleicht raus indie Natur. Da ist dann der Raum eine Bank, ein Fluss. Oder eine Beiz an einem See.Oder die Ruhe eines Kunsthauses.

2. Phase «Raus aus dem Gedankenkarussell»

Wir konzentrieren uns weg vom Alltag. An diesem Punkt ist es wichtig, nicht sofortin neue «To-do’s» zu investieren. Vielleicht hilft uns ein Gebet, ein Lied oder einBuch, um zur Ruhe zu kommen. Erst wenn das Karussell stillsteht, können wir inden aktiven Teil eines Rituals gehen.

3. Phase «Im Leben neue Segel setzen»

Nach diesen Momenten können wir unser Ritual durchaus beleben. Vielleicht planenwir etwas aus der Ruhe. Oder auch nicht. Wir nehmen uns neu wahr. Manche nehmensich bewusst solche «Time-outs», um die Segel in ihrem Leben wieder zurichten.

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