«Ich wünschte, ich wäre so belastbar wie du. Mir wird viel schneller alles zu viel. Wenn ich mich dann darüber beklage, obwohl ich doch viel weniger zu tragen habe als du, dann habe ich ein ganz schlechtes Gewissen.» Diese Sätze sagte kürzlich ein mir sehr nahestehender Mensch zu mir.
Sie beschäftigten mich sehr. Aus verschiedenen Gründen: Da wäre die Abwägung, wer mehr trägt. Lässt sich das objektiv beurteilen? Trägt jemand mit einem anspruchsvollen Job und hoher familiärer Belastung automatisch mehr als jemand, der sich ausserhalb seines Berufsalltags «nur» um sich selbst kümmern muss – aber mit Depressionen oder anderen psychischen Problemen kämpft? Wieso haben wir das Gefühl, diese verschiedenen Arten der Lasten gegeneinander abwägen zu müssen? Und müsste man für einen fairen Vergleich nicht zumindest die Belastung in Relation zur verfügbaren «Tragkraft» setzen?
Was mich aber genauso beschäftigt: Meine hohe Belastbarkeit empfinde ich längst nicht nur als Stärke. Denn ehrlicherweise ist sie oft ein Trugschluss. So belastbar, wie es scheint, bin ich gar nicht. Aber ich bin in der Lage, weit über meine Grenzen hinauszugehen. Ich kann mir zusätzliche Lasten aufladen, obwohl ich bereits längst kaum mehr weiss, wie ich die vorhandenen Lasten noch tragen soll. Ich halte mich mit blosser Willensstärke aufrecht.
Das wirkt gegen aussen vielleicht manchmal eindrücklich und stark. Eigentlich ist es aber das genaue Gegenteil.
Mir fehlt die Stärke, mir meine eigenen Grenzen einzugestehen. Sie wahrzunehmen und sie zu verteidigen. Das führt dazu, dass ich zwar tadellos funktioniere, gut performe – aber der Preis ist ein andauerndes Gefühl der Erschöpfung. Meiner mentalen Gesundheit zuliebe muss ich dringend lernen, auf meine Grenzen zu achten.
Ich denke, diese Herausforderung haben sowohl viele Führungskräfte als auch viele Elternteile mit mir gemeinsam. Vor lauter Verantwortungsgefühl – sei es nun für unser Unternehmen, unsere Mitarbeitenden oder unsere Liebsten – verlieren wir uns selbst aus den Augen. Wir vergessen, dass Selbstliebe und Selbstfürsorge genauso wichtig sind wie unsere Hingabe für all unsere Aufgaben. Gleichzeitig nehmen wir uns selbst wohl auch zu wichtig. Schliesslich bilden wir uns ein, ohne uns würde das System um uns herum zusammenbrechen. Würden wir früher um Hilfe bitten, häufiger Nein sagen, mehr delegieren, gäben wir anderen Menschen die Chance, sich zu entwickeln. Selbstwirksamkeit zu erlangen. Zu zeigen, was in ihnen steckt.
Vor allem aber wäre es eine Investition in unsere mentale Gesundheit. Uns gut um uns selbst zu kümmern, ist kein Zeichen von Schwäche und auch kein Egoismus, sondern ein Akt der Selbstliebe. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», legt uns Jesus in der Bibel nahe. Der Satz ist nicht nur eine Aufforderung zur Nächstenliebe – er lässt sich sehr gut auch als Auftrag lesen, Verantwortung für unser eigenes Wohlbefinden zu übernehmen.