Ersehnt und abgelehnt. Abschied und Neuanfang. Ruhe und Aktion. Abbruch und Aufbruch. Freud und Leid. Altes und Neues. Sicherheit und Unsicherheit. Kaum ein Wort beinhaltet mehr Gegensätze als das Wort «Pensionierung». Wir haben bei drei Personen nachgefragt, was die Pensionierung bei ihnen bewirkt hat.
Johannes Zollinger (71)
Letzter Beruf vor Pensionierung: Kantonsrat, Stadtrat, Schulpräsident
Jetzige Tätigkeit: Selbstständiger Treuhänder / Beratung für Kirchgemeinden und Kirchenpflegen
Pensionierung ist ein grosses Wort. Ein grosser Lebensabschnitt liegt zurück, ein neuer beginnt. Schauen Sie zuerst zurück oder nach vorn?
Ich schaue sehr dankbar zurück und mit «gwundriger» Erwartung nach vorn. Als Treuhänder bin ich noch nicht pensioniert.
Was machte die Pensionierung mit Ihnen, was löste sie aus?
Mein Abschied als Schulpräsident (nach 21 Jahren) kam unerwartet. Ich bewegte mich emotional lange zwischen «schad, törf i nüme» und «guet, mues i nüme». Wobei das erste Gefühl lange dominierte. Heute bin ich mehrheitlich dankbar, dass ich nicht mehr muss, und dankbar, dass ich so lange durfte.
«Pensionierung» oder «Beförderung in den nächsten Lebensabschnitt»? Was trifft für Sie zu, und warum?
Ein neuer Lebensabschnitt mit neuen Perspektiven. Weniger fremdbestimmt und (meistens) etwas gelassener.
Sie haben viele Jahre gearbeitet – mit Leidenschaft, engagiert. Die Arbeit in dieser Form ist beendet. Inwiefern ändert sich mit der Pensionierung die eigene Identität?
Das Umfeld verändert sich, viele langjährige Beziehungen sind nur noch in der Erinnerung vorhanden. Meine eigene Identität hat das (aus meiner Sicht) nicht verändert.
Elsbeth Schwarz (66)
Letzter Beruf vor Pensionierung: Administrative Leiterin Spitex
Jetzige Tätigkeit: Grossmutter / Sozialkommission / Frauenverein
Pensionierung ist ein grosses Wort. Ein grosser Lebensabschnitt liegt zurück, ein neuer beginnt. Schauen Sie zuerst zurück oder nach vorn?
Es ist wirklich ein markanter Abschnitt, wie wenn man in die Schule kommt. Es fragen viele: «Freust du dich?» – Aber man weiss nicht genau, was dieser Abschnitt mit einem macht. Dankbar bin ich, dass ich die Lebens-Arbeitszeit gesund und gut abschliessen konnte. Aber auch, als Frau mit 64 Jahren aufhören zu können. In Bezug auf die Sicht nach vorn waren Fragen da: Wie teile ich meine Zeit gut ein? Wo kann ich mehr Gelassenheit einbauen?
Was machte die Pensionierung mit Ihnen, was löste sie aus?
Ich habe mehr Zeit zum Lesen, Klavierspielen und Handarbeiten, die ich schätze. Es gibt aber auch mehr Raum, um mir Sorgen zu machen. Ich vermisste die Kontakte bei der Arbeit. Geniesse aber die Hütetage mit den fünf Enkelkindern, ohne mit den Arbeitstagen in Konflikt zu kommen.
«Pensionierung» oder «Beförderung in den nächsten Lebensabschnitt»? Was trifft für Sie zu, und warum?
Beförderung trifft eher zu. Das Bewusstsein nun «alt» zu sein mit der tieferen Belastungsgrenze und der grösseren Erholungszeit fährt ein. Bei mir kam die Diagnose «Diabetes 2» nach einem halben Jahr dazu. Dies beförderte mich ohne Vorwarnung in einen neuen Abschnitt, wo sich einiges um mich selber drehte. Wie bewege ich mich mehr, was darf ich nicht mehr essen? Eine Traurigkeit legte sich auf mich und ich fragte Gott: «Was soll das?» Doch heute kann ich sagen, ich konnte eine Veränderung einleiten und fühle mich gesünder als vorher.
Sie haben viele Jahre gearbeitet – mit Leidenschaft, engagiert. Die Arbeit in dieser Form ist beendet. Inwiefern ändert sich mit der Pensionierung die eigene Identität?
Da ich nur Teilzeit ausser Haus gearbeitet habe, hat sich meine Identität nicht so verändert. Eine Herausforderung ist die Tagesgestaltung, da der Arbeitsrhythmus fehlt. Ich geniesse es, die freie Zeit mit der Familie zu verbringen, mehr Raum für Besuche zu haben, kreativ zu sein und mit meinem Mann Zeit zu verbringen.
Andreas Schweizer (71)
Letzter Beruf vor Pensionierung: Wirtschafts-Informatiker
Jetzige Tätigkeit: Wegbegleitung / Schulprojekt «Generationen im Klassenzimmer» / Wandergruppe / #MonDay (ungeplantes Reisen an Montagen mit spontanen Treffen)
Pensionierung ist ein grosses Wort. Ein grosser Lebensabschnitt liegt zurück, ein neuer beginnt. Schauen Sie zuerst zurück oder nach vorn?
Ich schaue nach vorne, definitiv! Ich geniesse aber gelegentlich staunend den nostalgischen Blick zurück.
Was machte die Pensionierung mit Ihnen, was löste sie aus?
Im ersten Moment war die Pensionierung ein Schock. Der grösste Teil meiner täglichen Begegnungen war weg. Kein gemeinsamer Kaffee, keine Kollegen- und Kundengespräche, ein grosser Teil der bisherigen Lebensbühne verschwunden, niemand da, der mich oder meine Arbeit braucht. Das musste ich zuerst verdauen.
«Pensionierung» oder «Beförderung in den nächsten Lebensabschnitt»? Was trifft für Sie zu, und warum?
Ganz klar «Beförderung». Ein Finanzberater sagte mir vorbereitend: «Bisher gings ums Aufbauen, ab Pensionierung heisst es vom Aufgebauten zehren». Natürlich meinte er dies finanziell, ich aber nahm den Satz als Leitsatz fürs neue Leben, für alle Lebensbereiche. Nicht «Aufbauen», sondern vom Aufgebauten «zehren» und teilen, das ist jetzt meine Devise.
Sie haben viele Jahre gearbeitet – mit Leidenschaft, engagiert. Die Arbeit in dieser Form ist beendet. Inwiefern ändert sich mit der Pensionierung die eigene Identität?
Die Identität ist dieselbe. Ich bin und bleibe mich selbst, bin zufrieden mit dem, was ich habe und bin. Meine Ziele, die haben sich geändert, statt «Beschaffen» heisst es nun «Geniessen» und
«Teilen». Konkret teile ich meine Erfahrung, meine Zeit, mein Staunen, meine Gelassenheit, meine Lebensfreude. Ich teile dies in Freiwilligenarbeit mit den Menschen, die noch in der Phase «Aufbauen» sind.