Von Yvonne Schudel
Gelassenheit. Ein Zustand, nach dem sich viele sehnen. Einfach leben können. Ohne sich stets zu hinterfragen, ob es jetzt genug war, was man gegeben, geleistet, getan – ja sogar gebetet hat. Zufrieden mit sich selbst und dem eigenen Leben. Ohne zermürbende Selbstzweifel. Wieso glauben wir, wir müssten uns und unser Leben permanent optimieren? Der Frage, wie wir Menschen von Gott gedacht und gemacht, und warum wir immer besser, schöner und erfolgreicher werden wollen, geht Yvonne Schudel, Familienfrau, Psychologin und Sexologin, auf den Grund.
Wir leben in einer Welt des «Nie genug!». Besser, schneller, schöner, fitter, erfolgreicher. Permanent wird uns das Gefühl vermittelt, dass wir einen Mangel haben. Die Angebote, um uns zu optimieren, sind omnipräsent. Kaufe dir dieses Gerät, um effizienter zu arbeiten. Mit dieser Crème werden deine Falten bis in die Tiefe gestrafft. Werde endlich schlank mit Diät X. Mit dieser App wird das tägliche Sporttreiben einfach. All diese Botschaften suggerieren uns, dass das, was wir sind und leisten, noch nicht genügt. Es wäre mehr möglich. Und dieses «Mehr» gilt es zu erreichen. Ansonsten ist man selbst schuld, wenn man nicht erfolgreich und glücklich ist.
Doch ist es wirklich so einfach? Natürlich nicht. Das wissen wir alle. Und doch fühlen sich die meisten Menschen unter latentem Druck, immer noch mehr tun zu müssen. Und zwar in allen Bereichen des Lebens. Denn es scheint, als ob wir als Gesellschaft die Entscheidung getroffen hätten, dass ein lebenswertes Leben nur eines ist, das sich ständig optimiert.
Und so hetzen wir herum. Immer auf Achse. Immer mit einem Ziel vor Augen, das es unter allen Umständen zu erreichen gilt. Obwohl die Belastungsgrenze längst erreicht ist. Doch wir lächeln und zeigen uns kämpferisch. Alles bestens. Mir geht’s gut. Obwohl in uns drin ein Sturm tobt. Ein Sturm voller Selbstzweifel, Verunsicherung und Erschöpfung.
Da stellt sich unweigerlich die Frage: Warum können wir nicht einfach glücklich sein mit dem, was wir sind und haben? Warum zweifeln wir nach all unseren grossen Bemühungen immer noch an uns und unseren Leistungen? Und vor allem auch: Was können wir tun, um daraus auszusteigen?
Verbundenheit – die tiefe Sehnsucht von uns Menschen
Das tiefste Bedürfnis von uns Menschen ist es, geliebt zu werden. Das hat Gott, der von sich selber sagt, «Ich bin die Liebe», in uns angelegt. Diese Sehnsucht nach verbindlicher, authentischer Verbundenheit ist der Motor, der all unser Verhalten steuert. Denn geliebt zu werden ist nicht nur wunderschön, sondern überlebenswichtig. Ohne menschliche Liebe und Fürsorge überlebt kein Kind. Auch wenn wir als Erwachsene nicht mehr so abhängig sind: Die Angst, nicht zu genügen und darum nicht mehr geliebt zu werden, bleibt bestehen.
Darum sind wir Menschen so empfänglich für alle Arten von Optimierungs-Versprechen. Wir glauben, dass je besser wir es machen, desto mehr würden wir geliebt. Das gibt uns Sicherheit.
Davon erhoffen wir uns auch, uns selbstbewusster, gelassener und glücklicher zu fühlen, als wir das jetzt tun. Doch leider ist das nicht der Fall. Denn je mehr wir versuchen, es «richtig» zu machen oder «richtig» zu sein, desto unsicherer werden wir. Und sobald wir Menschen unsicher werden, fangen wir an zu vergleichen. Wie machen es die anderen? Was wird erwartet von mir? Wie könnte ich es noch besser machen?
Plötzlich geht es nicht mehr darum, wie ich es gerne machen möchte und wie ich mich fühle. Es geht nur noch um ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Es geht darum, wie es aussieht. Es geht darum, was die anderen denken. Und schon sind wir mittendrin in der Denkweise des Perfektionismus. Dieses Antreibers, der uns keine Pause gönnt, weil es nie genug ist. Dieses Lügners, der uns Leben verspricht, aber sein Versprechen niemals hält. Denn Perfektion ist Mangeldenken und Selbstablehnung.
Je mehr wir uns darauf einlassen, desto mehr verlieren wir den Zugang zu unseren Gefühlen. Sie haben keinen Platz im Streben nach Perfektion. Darum müssen wir sie wegdrücken und verlernen dadurch, uns selbst zu vertrauen. Wir verlernen zu sein. Alles, was zählt, ist der Schein.
Wer Perfektion anstrebt, fühlt sich immer ungenügend. Denn Perfektion existiert nicht. Doch stellen wir uns mal vor, es wäre möglich, Perfektion zu erlangen. Was würde das bedeuten? Der perfekt runtergehungerte und trainierte Körper darf sich nicht mehr verändern. Das perfekt aufgeräumte und geputzte Haus darf ja nicht mehr schmutzig und chaotisch werden. In der harmonischen Beziehung darf es nie zum Streit kommen. Um das zu erreichen, müsste alles um uns herum starr werden. Doch alles, was lebt, verändert sich. Jeder menschliche Körper, jede Beziehung, jeder Ort, an dem Menschen sich begegnen. Hier wird klar, dass es nicht die Perfektion ist, nach der wir uns sehnen, sondern das Gefühl, das wir von ihr erwarten: Liebe, Anerkennung, Verbundenheit, Lebendigkeit und Fülle. Wir glauben, dass unsere Unvollkommenheit uns von diesen Gefühlen fernhält. Denn Unvollkommenheit fühlt sich nach Schwäche an. Darum setzen wir alles daran, unsere Unvollkommenheit zu überdecken. Doch genau dort, in unserer Unvollkommenheit, liegt der Schlüssel, um aus dem Leben des «Nie genug!» aussteigen zu können. Hier startet der Weg in die Gelassenheit. Der Weg des «Loslassens».
Sich selbst zur besten Freundin, zum besten Freund werden
Der Weg heraus aus dem Getriebensein und hinein in ein Leben voller Gelassenheit ist so einfach wie schwierig: Es geht darum, uns selbst bedingungslos annehmen zu lernen. Unabhängig davon, was wir leisten, wie wir aussehen und was die anderen von uns erwarten. Denn Gelassenheit, Verbundenheit und Liebe können wir niemals im Aussen finden. Sie sind immer Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit uns selbst.
Darum lasst uns aussteigen aus der Spirale des «Nie genug!». Gott liebt uns bedingungslos. Können wir diese Liebe für uns annehmen? Können wir es ihm gleichtun, ohne Wenn und Aber?
Lasst uns lernen, unsere Unvollkommenheit zu umarmen – unsere Bedürfnisse, Grenzen, Ängste. Je mehr wir uns das erlauben, desto weniger wird es in unseren Leben darum gehen, uns zu optimieren. Wenn wir uns nicht mehr beweisen müssen – weder uns selbst, weder Gott noch der Welt – dann dürfen wir uns endlich zeigen, wie wir sind. In unserer ganzen Unvollkommenheit. Dann können wir auch mit dem Vergleichen aufhören, weil es nichts mehr zu vergleichen gibt. Wir können aus dem Wettkampf aussteigen, der nie als einer gedacht war.
Das ist der Weg der Selbstannahme. Selbstannahme heisst loslassen dürfen. Es ist die Einladung an uns, uns durch all die Schichten von limitierenden Glaubenssätzen, Familientraditionen, Kirchen-Dogmen, Rollenbildern und Erwartungen zu graben, um uns selbst suchen zu gehen. Wer waren wir, bevor wir verinnerlicht haben, wie wir zu sein hätten, um geliebt zu werden? Anstatt zu schauen, wie es die andern machen, dürfen wir uns von nun an fragen: Wer will ich sein? Wer steckt in mir drin? Welche Träume habe ich? Wonach sehnt sich mein Herz?
Diese Art zu leben ist nicht immer einfach. Sie braucht Zeit. Sich selbst kennenlernen braucht Zeit. Und es bedingt, dass wir uns selbst zur besten Freundin, zum besten Freund werden. Also zu einer Person, die bedingungslos zu uns steht. Die uns den Rücken deckt, voller Loyalität und Geduld und uns nicht verändern möchte, sondern uns hilft aufzublühen.
Der Weg zur bedingungslosen Selbstannahme
Selbstannahme lernt man nicht durch einen einfachen 3-Schritte-Plan. Selbstannahme ist ein Weg. Ein Weg mit Irrungen und Wirrungen. Ein Weg, für den es sich immer wieder neu zu entscheiden gilt. Doch wir müssen diesen Weg nicht alleine gehen. Gott geht ihn mit uns. Wie kann ich also glauben lernen, dass ich genüge? Wie kann ich annehmen lernen, dass es nichts gibt, was ich überdecken oder beweisen muss? Dazu folgend ein paar Überlegungen, die nicht abschliessend sind, sondern die innere Haltung der Selbstannahme vermitteln sollen:
Es ist wichtiger, wie es mir geht, als was alle anderen denken
Uns mehr darum zu kümmern, wie es uns geht, als was andere von uns denken, braucht Mut. Oft scheint es einfacher, sich an die Erwartungen anzupassen. Darum ist die folgende Frage, in Situationen, wo wir uns unter Leistungs- und Erwartungsdruck fühlen, so wichtig: «Was ist das Mutigste, was ich jetzt für mich tun kann?» Mut wächst, indem wir für uns einstehen, obwohl wir uns nicht mutig fühlen. Bei dieser Art von Mut handelt es sich nicht um Heldentaten im herkömmlichen Sinne, sondern um Dinge wie Hilfe annehmen, eine Pause einfordern oder ehrlich darüber reden, wie es uns wirklich geht.
Mein Standard ist nicht die Perfektion, sondern die Gnade
Lösen wir uns von der Vorstellung, dass es so etwas wie Perfektion oder den «richtigen» Weg gibt. Es gibt nur unseren Weg. Dieser ist einzigartig, weil auch wir einzigartig sind. Unser Lebensweg offenbart sich, indem wir ihn gehen, einen Schritt nach dem anderen. Er wird niemals geradlinig verlaufen, sondern sich durch Umwege, Fragen und Unsicherheiten auszeichnen. Der einzige verlässliche Wegweiser, den wir haben, ist unsere innere Stimme. Die Stimme Gottes. Dieser liebevollen Stimme dürfen wir vertrauen lernen.
Ich stehe zuverlässig für mich selbst ein
Wie oft haben wir uns schon Dinge versprochen und sie nicht gehalten? Wie oft war es für uns schon einfacher, lieber für andere einzustehen als für uns selbst? Jedes Mal, wenn wir das tun, enttäuschen wir uns selbst. Doch Selbstannahme heisst zuverlässig für uns selbst einzustehen. Jeden einzelnen Tag. Damit wir uns selbst vertrauen lernen.
In der liebevollen und verlässlichen Beziehung zu uns selbst wächst Gelassenheit. Je mehr wir bedingungslos umarmen, wer wir sind, desto tiefer wird die Verbundenheit mit uns selbst. Dies verändert auch die Beziehung zu unseren Mitmenschen zum Besseren, denn Selbstannahme macht uns beziehungsfähiger.
Zur Person
Das Herz der Psychologin und Sexologin Yvonne Schudel schlägt dafür, dass Frauen aus der Selbstsabotage aussteigen und sich selbst zur besten Freundin werden für ein Leben voller Vertrauen, bedingungsloser Selbstannahme und Mut.