Von Ruedi Josuran
Was schafft Nähe und was Distanz zu Menschen, zu Gott oder zu mir selbst? Wo schaue ich lieber nicht hin und gehe auf Distanz, ziehe mich zurück und hülle mich in Schweigen? Diese Fragen beschäftigten mich auf einem Spaziergang am Zürichsee. Ich bereitete mich gedanklich auf einen TV-Talk über «Selbstoptimierung» vor. Wie oft habe ich selbst schon diesen Druck verspürt, ein anderer sein zu müssen, statt einfach «ich selbst» zu sein. Der Schweizer Psychiater Daniel Hell formuliert es so: «Selbstoptimierung will nicht das wahre Selbst, sondern das bessere Selbst.» Was ist passiert, dass ich ein anderer sein möchte? Was bringt mich dazu?
Plötzlich bin ich bei einem weitgehend tabuisierten Thema: der Scham. Schuld, Unvermögen, Unzulänglichkeit, Anderssein – sogar Dinge, für die wir gar nichts können, können zu Scham führen. Mit fatalen Folgen: Wenn wir uns schämen, stellen wir uns als Person in Frage. Es kann sogar so weit gehen, dass man sich schämt, überhaupt da zu sein. Schamgefühle verursachen oft Angst. Angst, nicht mehr dazuzugehören. Angst davor, anders zu sein. Angst, als Person nicht mehr beachtet zu werden. Und Scham kann zu Isolation führen, zum Kommunikations-Abbruch, zum Rückzug aus einer Gemeinschaft und zur Störung der Beziehung zu Gott. In 1. Mose, 2 wird von den ersten Menschen berichtet: «Es waren die beiden, der Mensch und seine Frau nackt, aber sie schämten sich nicht.» Dieses «Sich-nichtSchämen» meint biblisch, sich in einer intakten, störungsfreien Gemeinschaft zu befinden. Mann und Frau leben in einer Gemeinschaft, in der es weder Scham vor sich selbst noch vor dem anderen gibt. Selbstbeziehung und Fremdbeziehung sind ausgewogen.
Ohne Scham miteinander zu leben, ist der paradiesische Urzustand, den Gott durch seinen Schöpfungsakt ermöglicht.
Die Geschichte endet nicht hier. Der Mensch entscheidet sich für den Weg der Selbstbestimmung und übernimmt selbst die Rolle desjenigen, der über Gut und Böse, über lebensfreundlich und lebensfeindlich entscheiden möchte. In der Erzählung in 1. Mose 3, 1-14 wird die Reaktion auf diesen Akt der Selbstbestimmung so beschrieben: «… und ihnen beiden wurden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott, den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes unter den Bäumen des Gartens.»
Der Mensch wird verletzlich – die Beziehung zu Gott ist nachhaltig gestört. Es beginnt die Zeit des «Sich-vorGott-Versteckens», der Verschleierung und Maskierung. Make-up wird aufgetragen, die Performance muss stimmen. Gestört ist aber auch die Verbundenheit des Mannes mit der Frau. In gewisser Weise will die Geschichte nichts anderes erzählen als dies: Der Mensch ist in einer gebrochenen Welt angekommen. Scham und Schuld sind der Preis der Autonomie.
Der Weg zur Heilung führt durch diese Scham hindurch. Am anderen Ende wartet Gott. Durch Jesus lernen wir: Wir sind willkommen – so, wie wir sind. Das ist keine Discount-Lösung ohne Rückfall-Garantie. Aber es ist der Weg zurück zu unserer ursprünglichen Bestimmung.