Von Jörg Niederer
Seit ich in St. Gallen Pfarrer bin, kenne ich Wiborada. Nebst Gallus und Otmar mausert sich die erste offiziell heiliggesprochene Frau der Welt zu einer bedeutenden Identifikationsfigur. Dabei war ihr Leben aus heutiger Sicht paradox. So liess sie sich als Inklusin zehn Jahre lang in eine Zelle einschliessen. Es war eine selbstgewählte Isolation, die erst mit ihrer Ermordung durch ungarische Soldaten wieder endete.
Wiborada bedeutet «Weiberrat». In der Zeit ihrer freiwilligen Gefangenschaft wurde sie zu einer wichtigen Ratgeberin für alle Bevölkerungsschichten. In einer Vision sah sie den Ungarneinfall voraus und warnte Abt und Mönche frühzeitig. So konnten diese die Klosterschätze in Sicherheit bringen, darunter auch wertvolle Handschriften, welche heute in der Stiftsbibliothek St. Gallen zu finden sind.
Da war also diese eingesperrte Frau, die in grosser innerer Freiheit weder Leben, Einsamkeit noch Tod scheute. Heute ist sie Symbolgestalt für die Befreiung der Frauen in Kirche und Gesellschaft. Das klingt wie ein seltsamer Witz. Doch gerade in dieser Widersprüchlichkeit eifern in diesen Tagen Menschen Wiborada nach und lassen sich bei der Kirche St. Mangen für eine Woche einschliessen.
Ich bin eine recht liberale Person. Ich nehme mir als Pfarrer und Mensch viele Freiheiten heraus. Und doch habe ich gelegentlich den Eindruck, als sässe ich fest, als könne ich mich nicht weiterbewegen. An Tagen, an denen ich nichts tun muss, kann es geschehen, dass ich mich zu nichts aufraffen kann. Ich hätte die Möglichkeit, zu tun oder zu lassen, was ich will. Aber das Lassen fühlt sich wie ein Nichtstun-Müssen an und will mir selbst in aller Passivität einfach nicht gelingen.
Brauche ich weniger Freiheit? Müsste mein Leben vorherbestimmter ablaufen? Klare Anweisungen, klare Tagesabläufe, klare Ansagen. Bei Glaubensfragen sagt mir der Pfarrer, was gut und richtig ist, bei der Arbeit der Chef, im Sport der Trainer und zuhause die bessere Hälfte.
Doch dann kommt Gott ins Spiel, spricht uns Menschen an und sagt: «Ich bin dann mal so frei», und wenn wir ihn nicht aufhalten, nimmt er uns und führt uns in eine Freiheit, die uns überrascht, wie diese «Zellen-Freiheit» der Wiborada. Dann sind wir in allen Zwängen unserer Zeit mit einem Mal freier, als wir es in aller Freiheit wären. Dann müssen wir nicht mehr frommen Erwartungen entsprechen, selbst wenn wir es tun sollten. Gottes Wege sind unergründlich. Aber es sind immer gute Wege. Wege in eine raumgreifende Freiheit. Und sei der Raum auch noch so zellenartig klein.